Der Mythos vom angstfreien Leben

Der Mythos vom angstfreien Leben

Je nach Studie leiden 14 bis 29 % der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben unter einer Angsterkrankung.

MSc Nicole Zbinden ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und Oberpsychologin. Sie arbeitet in der Privatklinik Wyss AG und behandelt Patient*innen mit Angst- und Zwangsstörungen. Sie erklärt, warum das Problem per se nicht die Angst, sondern die Reaktion auf die Angst ist. Betroffene geraten oftmals in einen Sog des ständigen Kampfes gegen die Angst, was zu erheblichem Leid führt.

Angst gehört zum Leben
Angst ist ein Gefühl, das wir alle kennen. Sie kann mit diversen, teils unangenehmen körperlichen Reaktionen verknüpft sein: Da sie uns auf eine mögliche gefährliche Situation vorbereiten soll, kommt es zur Aktivierung des autonomen Nervensystems mit Herzklopfen, Erhöhung der Muskeldurchblutung, Zunahme der Muskelspannung, Schwitzen, Bauchbeschwerden etc. Dies macht Sinn, da dadurch die körperliche Leistungsfähigkeit für eine Kampf- oder Fluchtsituation verbessert wird. Tritt diese Reaktion aber mehrfach oder anhaltend in einer ungefährlichen Situation auf, kann sie zu einem Problem werden. Angst ist eine wichtige Funktion unseres Körpers. Stellen Sie sich ein Leben ohne Angst vor: Vielleicht würden Sie die lang ersehnte Bergtour über exponierte Wege auch bei einem Gewitter machen, oder ohne zu schauen, die Strasse überqueren, weil Sie gerade Lust dazu haben. Kurzum, Sie hätten ein hohes Risiko, für schwerwiegende Unfälle. Als Menschen sind wir mit Angst ausgestattet, damit wir länger am Leben bleiben. Sie ist unsere Verbündete, informiert uns über Gefahren und bereitet uns blitzschnell darauf vor, diesen auf eine hilfreiche Art zu begegnen.

Einstellung zur Angst
Kinder lernen anhand der Reaktionen der Eltern, durch Beobachten sowie mittels gesellschaftlicher Normen und Werte, wie sie mit Gefühlen umgehen sollen, welche Gefühle erlaubt oder nicht akzeptiert sind. Ist Angst okay? In welchen Situationen ist sie okey, in welchen nicht? Die Antworten auf diese Fragen sind zentral für Menschen, die unter Ängsten leiden. Meistens empfinden Betroffene ihre Ängste eher als schädlich, nicht hilfreich, zu intensiv, abnormal, zu oft oder unangepasst. Es entsteht der natürliche Wunsch, dass die Ängste abnehmen oder ganz verschwinden, und die Betroffenen suchen nach Hilfsangeboten.

Der Preis des «Angst-Managements»
Der Wunsch nach Linderung ist menschlich und verständlich. Als Menschen in einer leistungsorientierten Gesellschaft haben wir gelernt, dass wir mit genügend Einsatz auch zum Ziel kommen. Doch im Umgang mit Emotionen und Gedanken wird genau diese Strategie zur Falle. Menschen, die unter Angststörungen leiden, wenden eine Vielzahl an Methoden an, um die Angst in den Griff zu bekommen und diese zu kontrollieren: Vermeidung von Situationen und Aktivitäten, die Angst auslösen könnten, Ablenkung, gut zureden, nicht allein sein, Alkohol, Drogen, Angebote für ein angstfreies Leben aufsuchen. Die Liste ist schier endlos, wie auch jene der Ratgeber. Die rigide Vermeidung von Angst führt zu einem stark einschränkenden Problem. Betroffene, die so vieles unternommen haben, die Angst zu bekämpfen, machen sich selbst nicht selten Vorwürfe, dass sie es noch nicht geschafft haben, diese loszuwerden. Das Managen der Angst wird zu einem 7×24-Job und es bleibt wenig Zeit für Positiveres.

Aussteigen aus dem Kampf
Diese Menschen machen nichts falsch. Nur ist es leider nicht möglich, Gefühle zu wollen oder nicht zu wollen oder sie gar auszuschalten. Im Gegenteil: Die Forschung hat gezeigt, dass diese letztlich zunehmen. Wollen wir beispielsweise nicht an einen lila Schwan denken, so taucht er sofort vor unserem inneren Auge auf. Es braucht im Umgang mit Gefühlen und Gedanken einen einen unserer menschlichen Intuition entgegengesetzten Weg, einen radikal anderen als die Vermeidung. Im Behandlungsprogramm an der Privatklinik Wyss lernen Betroffene schrittweise, die Angst und Angstgedanken bewusst zu beobachten, sich ihnen zuzuwenden und sie kennenzulernen. Dabei erfahren sie, dass die Angst und die Gedanken keine Gefahr darstellen und ihnen nichts Schlimmes passiert. Durch eine schrittweise Exposition – also sich den angstbehafteten Situationen oder Gedanken stellen – wird einerseits die Angst relativiert, andererseits entsteht eine offenere innere Haltung zu ihr, was zur Wiedererlangung von Freiheiten und zu mehr Lebensqualität führt.

Angst
  • Betroffene, die so vieles unternommen haben, die Angst zu bekämpfen, machen sich selbst nicht selten Vorwürfe, dass sie es noch nicht geschafft haben, diese loszuwerden.